Wohin entwickelt sich die Tech-Branche?

Johannes Kleske
Third Wave
Published in
6 min readMar 21, 2017

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Erkenntnisse aus meinen Recherchen in San Francisco und der Bay-Area

Wir leben in einer rapide komplexer werdenden Welt. Das ist die Ausgangslage, für die wir mit unserer Analyse- und Beratungsarbeit bei Third Wave Herangehensweisen entwickeln. Dazu gehört auch, gewonnene Erkenntnisse immer wieder zu überprüfen und zu erweitern. Deswegen habe ich Anfang März sechs Tage in San Francisco und den umliegenden Städten verbracht, um zu recherchieren, wohin sich die Tech-Branche bewegt und welchen Einfluss das auf die Gesellschaft dort hat. Um sowohl die spezifischen Details als auch den größeren Kontext besser zu verstehen, traf ich mich mit zahlreichen Menschen, die entweder im Tech-Kontext arbeiten oder eine spezifische Perspektive auf die Rolle der Branche haben.

Hier die wichtigsten Erkenntnisse, die ich mitgenommen habe:

1. Alle sind komplett überfordert.

Wir haben in Deutschland gerne die Vorstellung, dass man im Silicon Valley genau weiß, wie die digitale Zukunft aussieht. Die großen Tech-Konzerne haben den Plan und verfolgen geradlinig ihre Ziele.

Nach einem Gang über den Facebook Campus und verschiedenen Gesprächen mit Menschen, die bei Facebook und anderen Unternehmen arbeiten, ist für mich noch mal deutlicher geworden, dass auch die Konzerne komplett am schwimmen sind:

Nicht nur, dass sie keinen klaren Plan haben für eine komplexer werdende Welt – sie wissen nicht mal mehr, wie sie jene Komplexität bewältigen können, die sie durch ihre eigenen Produkte geschaffen haben.

Wenn ich mit Kunden, Politikern und Organisationen in Deutschland spreche, höre ich oft eine gefühlte Hilflosigkeit gegenüber dem Vorsprung des Silicon Valleys heraus. Umso faszinierender war es für mich, diese gleiche Hilflosigkeit bei den Tech-Unternehmen selbst zu spüren. Insbesondere weil die Prinzipien, die sie zu diesem Punkt gebracht haben – fail early, fail often, move fast, break things – ins kontraproduktive umschlagen, wenn man zwei Milliarden Nutzer hat und ein integraler Teil der Gesellschaft ist. Der Launch der Livestream-Plattform „Facebook Live“, dessen Effekt unter anderem war, dass zahlreiche Teenager ihre Selbstmorde in Echtzeit ins Internet übertrugen, hat das Unternehmen in seiner Seele erschüttert. Dies, kombiniert mit der Rolle bei den Präsidentschaftswahlen, hat dazu geführt, dass ich ein Unternehmen erlebt habe, welches eigentlich immer noch wie ein Startup tickt, dessen Position in der Gesellschaft aber ein ganz anderes Level von Verantwortung verlangt und das an diesem Wechsel hart zu knabbern hat. Das Eingestehen dieser Verantwortung hätte zur Folge, dass man die grundsätzliche Herangehensweise komplett überarbeiten müsste, wodurch man alle Werkzeuge verlieren würde, die einem bisher beim Umgang mit einer komplexen Welt geholfen haben. Zuckerberg ist in der Tat der Zauberlehrling.

Ein Zip Car wird auf der Spitze der Twin Peaks abgeschleppt.

Das taucht für mich auch den aktuellen Hype um Künstliche Intelligenz in ein neues Licht. Google, Facebook, Amazon, aber auch IBM und andere sind so verrückt nach KI, weil sie geradezu beten, dass sie damit die immensen Probleme in den Griff bekommen, die sich vor ihnen und uns als Gesellschaft auftürmen. Wenn man Google fragt, wie sie Fake News bekämpfen wollen, bekommt man „bessere Trainingsdaten für unsere Machine-Learning-Algorithmen“ als Antwort. Das gleiche hört man von Facebook, wenn es um die Selbstmorde auf Facebook Live geht. Die aktuelle Antwort der Tech-Unternehmen auf alles ist „Machine Learning“. Diese verzweifelte Hoffnung, dass es der Algorithmus schon irgendwie richten wird, macht die Unternehmen aber letztendlich nur noch anfälliger für die Probleme, die sie damit eigentlich bezwingen wollten.

2. Die Zukunft ist Cyberpunk

KI ist ein gutes Stichwort. Denn KI ist ein Thema, bei dem es Startups sehr schwer haben. Um Algorithmen zu trainieren braucht es sehr große Datenmengen und sehr viele Ressourcen. Kein Wunder also, dass hier vor allem die oben erwähnten Konzerne von sich reden machen.

Aber auch in anderen Bereichen scheint es zunehmend schwerer für Startups zu werden. So habe ich herausgehört, dass es z.B. beim Thema Internet der Dinge immer schwieriger wird, größere Finanzierungsrunden abzuschließen, weil die Venture-Kapitalgeber Angst davor haben, was Konzerne wie Amazon und Google in dem Bereich planen könnten. Damit entsteht quasi eine sich selbsterfüllende Prophezeiung:

Die Kapitalgeber finanzieren die Kleinen nicht mehr aus Angst vor den Großen, wodurch die Großen – ungestört von den Kleinen – noch größer werden können.

Ein Freund, der beim Foo Camp – einer sehr exklusiven Veranstaltung von Tim O’Reilly für die Elite der Bay Area – dabei war, berichtete von der Vorstellungsrunde, dass praktisch jeder, der gerade an spannenden, neuen Themen arbeitet, das für einen Konzern tut. Der Hype um Startups als Wiege der Innovation scheint zumindest im Herz der Digitalisierung vorüber zu sein. Konzerne wie Amazon haben sich inzwischen die agilen Methoden der schnellen Produktentwicklung angeeignet. Gleichzeitig besitzen sie die deutlich tieferen Taschen, um zum einen größere Risiken einzugehen und zum anderen jegliches Talent anzulocken.

Einer der vielen Stops für die Shuttle-Busse zu den Campus der Tech-Konzerne

Igor hat es nach meiner Rückkehr treffend zusammengefasst: die Zukunft ist Cyberpunk. Wenige, ausgewählte Konzerne konzentrieren noch mehr als bisher die Innovation, das Talent und das Geld auf sich und damit die Macht.

3. Fünfzig Jahre Vorsprung

Meine Reiseliteratur für den Trip nach San Francisco war das Buch „From Counterculture to Cyberculture“, in dem Fred Turner die ideologische Entwicklung des Silicon Valleys aus der Hippie-Kultur beschreibt. Das Bewusstsein für diese Geschichte kombiniert mit meinen Wanderungen durch die Viertel von San Francisco hat mir einmal mehr ein anderes Verständnis für die intellektuelle Tiefe und das ideologische Fundament gegeben, auf dem der Erfolg des Silicon Valleys fußt.

Im Foyer von Facebook

Was man gerne vergisst, wenn man durch die Hallen Facebooks geführt wird: dieses Unternehmen ist ein Tech-Unternehmen der fünften oder sechsten Generation. Angefangen bei Fairchild über Konzerne wie Intel und Yahoo hat jede Generation das Wissen und die Weltsicht, die sie aus der Militärforschung, der Hippie-Kultur und den Universitäten Berkley und Stanford mitgenommen hat, weiter entwickelt. Zuckerberg, Brin, Page, Bezos und all die anderen, die jetzt die Konzerne lenken, sind die Erben einer fünfzig- bis sechzigjährigen Tradition. Dies konnte man gerade wieder sehr gut an Zuckerbergs Manifest nachvollziehen, das sich auf der roten Linie dieser Tradition bewegt.

Mit diesem Bewusstsein wirken Rufe nach einem „europäischen Google“ umso ahnungsloser. Sie zeugen von einer Naivität im Verständnis für Innovation und dessen Kontext. Jemand hat es mal treffend zusammengefasst: Wer in fünfzig Jahren ein „europäisches Google“ möchte, der sollte jetzt am besten in den europäischen „militärisch-industriellen Komplex“ investieren. Es ist der Ironie unserer Zeit zu schulden, dass genau das sich gerade abzuzeichnen scheint, wenn man die Überlegungen zur Aufrüstung in Europa ernst nimmt.

Fazit

All diese Entwicklungen, die sich in San Francisco und der Bay-Area abzeichnen, haben mich nur weiter darin bestärkt, dass wir europäische und deutsche Alternativen brauchen. Die Schwächen der kalifornischen Herangehensweise an Innovation und eine digitale Welt werden immer deutlicher. Gleichzeitig macht es keinen Sinn, diese Herangehensweisen einfach zu kopieren, weil sie dort mindestens fünfzig Jahre Vorsprung in der intellektuellen und ideologischen Grundlage für ihr Vorgehen haben.

Ich glaube, dass uns dieser unreflektierte Blick an die Westküste der USA blind gemacht hat, für unsere eigenen Stärken. Interessanterweise nehmen gerade die Amerikaner genau diese war. Das mag durchaus mit der aktuellen politischen Lage dort zusammenhängen, die seit langem wieder einmal den Gedanken zulässt, dass man vielleicht doch nicht das Maß aller Dinge ist.

Im Gegenzug wird allgemein die Erkenntnis in Europa zunehmen, dass man selbstständiger werden und seine eigene Wege gehen muss. Das kann der Herangehensweise an Technologie und Innovation nur gut tun. So meinte Manuel Gerres, der Innovationsmanager der Deutschen Bahn, im Gespräch mit dem Spiegel vor kurzem:

„Ich finde, wir sollten hier in Deutschland nicht versuchen, das Silicon Valley nachzubauen. Stattdessen müssen wir hierzulande eine eigene DNA entwickeln. Wir sind ein Land von Ingenieuren.“

Bei Third Wave haben wir uns auf die Fahnen geschrieben, für einen selbstbewussten und reflektierten Umgang mit der digitalen Transformation einzutreten. Die aktuellen Beobachtungen aus dem Silicon Valley bestätigen uns in dieser Mission.

Nachtrag: Der SWR hat die wichtigsten Punkte der Ideologie in einem tollen Essay zusammengeführt und damit quasi eine Kurzfassung von From Counterculture to Cyberculture geliefert.

Dieser Artikel erschien zuerst in unserem Newsletter.

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Partner at Third Wave, Strategic Designer, Critical Futures Researcher